Jetzt ist sie endgültig verschwunden. Für mich, für uns hier oben im Tower. Eben noch sahen wir die Beech King Air übers Vorfeld rollen, hin zur Startbahn:
„Beech D-IATM, hold short Runway 09, landing Skyhawk on short final.“, wies ich die zwei-motorige Maschine an, auf eine landende Cessna zu warten.
Die Zweimot hielt, der einmotorige Hochdecker sank auf die Schwelle zu, schwebte, setzte auf und rollte ab.
„Beech D-TM, cleared for take-off Runway 09, Wind 100, 10 knots.“
erteilte ich die Startfreigabe, und schon rollte die Maschine auf die Piste, hielt einen Moment und beschleunigte dann, um kurz darauf abzuheben. Ein bischen Schnee wirbelte auf. Dann fuhr sie das Fahrwerk ein, stieg weiter und drehte ab.
Vor einer Stunde noch hat es geschneit, der erste Schnee dieses Winters; der Winterdienst fuhr die einzige Piste ab. Kurz darauf hörte es auf, zu schneien, aber der Schnee blieb liegen, es war kalt genug.
„D-TM over Juliett.“ krächzt es aus dem Lautsprecher.„D-TM, contact Departure on 119.15, have a good flight.“
verabschiede ich mich und gebe die Maschine an die Kollegen der Abflugkontrolle weiter. – Feierabend.
Ich trete ins Freie. Die Kälte beißt, die Sonne spendet nur noch ein fahles Licht. Bald wird es dämmern, die Tage jetzt im Dezember sind kurz. Nur zögernd, protestierend springt der Motor an; ich fahre los.
Abblendlicht und Dunst, wohin man schaut. Das Radio meldet sich ungefragt und berichtet von Staus, der Opposition, Haushalts- und (sich wohl gegenseitig bedingend) Steuerlöchern. Draußen ist es naß und kalt, hier drinnen nur letzteres. Der Heizung ist nicht beizukommen; halb erfroren bin ich schon.
Schreck in der Abendstunde: Natürlich habe ich vergessen einzukaufen. Jetzt ist der Kühlschrank leer. Mein Magen auch, natürlich. Nun gut, also rein ins Vergnügen. Dicker kann’s nicht mehr kommen heute. Ein wenig unruhig, verzweifelnd überlegend, was ich eigentlich brauche und garantiert vergessen werde zu besorgen, nähere ich mich einem der letzten noch freien Parkplätze. Ich habe Glück, keine hundert Meter weiter ist bereits der Supermarkt.
Etwas hastend greife ich mir einen Einkaufswagen und warte, so geduldig wie gelangweilt durch den viel zu schmalen Eingang ins Trockene, Helle zu gelangen.
Vorweihnachtszeit: Übervolle Regale, volle Gänge und Straßen. Buntes hier, Buntes dort; graue Jacke von vorn und braun bepelztes Großmütterchen hinterrücks. Und Nikolaus nicht mal vorbei. Wie wird’s wohl erst in zwei Wochen hier aussehen? Ich wage nicht, es mir auszumalen.
Dank genauer Kenntnis der Geographie weiche ich geschickt unschlüssig dastehenden Einkaufswagen vorbei; fühle mich dabei wie in einem Porsche: mit Bleifuß und Lichthupe alles rechts und hinter mir lassend, bis schließlich ein noch Schnellerer – Ferrari wahrscheinlich – mich abdrängend, gehetzt an mir vorbeirauscht.
Zur Rechten und Linken erblicke ich Regale und Truhen, halte hin und wieder an, wühle in Unmengen von Konsum und Kitsch und greife nach mehr oder minder Eßbarem.
Ich lande bei den Süßwaren. Ein Vorsatz meldet sich leise und nötigt mich zum weitergehen. Doch inmitten all der Schokowaren ist da plötzlich ein Tischchen. Bunt, wie verspielt gibt es sich, und die Ware ist sehr saisonal und kurzlebig: Adventskalender, Stück Eins-Fuffzig. Adventskalender! Ich halte ein und blicke auf die bunte Halde und überlege: Wie lange ist das jetzt her? Viele, viele Jahre. Flüchtig nur sind die Erinnerungen: Das gespannte Warten mit noch etwas müdem Gesicht morgens beim Frühstück. Da hing solch ein Kalender. Mit auf die Wand gerichtetem Blick warmen Kaba schluckend und Brötchen kauend. Und dann diese Ungeduld bis zum Öffnen des Türchens. Welches Tierchen war heute an der Reihe? Und: Mit jedem Türchen rückte das Fest näher. Vierundzwanzig Tage wie im Rausch.
Immer wieder greifen kleine Hände nach den Kalendern; tanzen Kinder freudig umher. Sie scheinen voll und ganz aufzugehen in dieser Zeit. Ein Zauber, nicht geifbar, der sie erfaßt.
Gedränge hinter mir. Offenbar halte ich den Betrieb auf. Nur Kinder? Frage ich und zweifle. Irgendwie finde ich sie schön, diese Kalender für nicht ganz einen Monat. Schon höre ich es leise spotten: Doch nichts für Erwachsene! Wirklich nicht? Mit ein wenig Wehmut erinnere ich die vergangenen Zeiten, an die alljährlich wiederkehrenden vierundzwanzig Wintermorgen meiner Kinderzeit: Welches Tierchen heute?
Verstohlen, etwas Schuld verspürend greife auch ich mir einen dieser Kalender – oder besser gleich zwei. Weihnachten ist nur einmal im Jahr, und außerdem: man kann ja nie wissen…