Einst gab es eine Zeit großer Not in jenem Land. Vielerlei Leid plagte das Volk, sodaß es klagte und wimmerte über Krieg und Pestilenz, über Mord und Totschlag, über Hunger und Siechtum. So rumorte es alsbald unter den einfachen Leuten des Landes; es drohte Rebellion, und aufrührerische Reden gingen durchs Land. Der Herrscher jenes Landes vermochte nicht die Not zu wenden und floh, denn er fürchtete den Zorn des Volkes. Verwirrung kam auf im Volke, aber auch Freude als es hieß, der Herrscher sei geflohen. Es wuchs die Hoffnung, und Trübsal und Furcht schwand zugleich mit dem geflohenen Herrscher. Ein weiser und gütiger Mann war nun gefordert; einer mit Großmut im Herzen und gerechten Verstand; einer mit Schärfe im Blick und zugleich mit Nachsicht. So suchte das Volk einen weisen und gütigen, großherzigen und nachsichtigen Mann; und es waren nicht wenige, die vergebens hofften. Viel Zeit ging ins Land, doch es kam der Tag, an dem sich ein solcher weiser und gütiger Mann fand; einer mit Schärfe im Blick und Großmut im Herzen, mit gerechtem Verstand und Nachsicht im Gemüt, und dieser Mann wurde der neue Herrscher des Landes.
Er regierte weise und gütig, und alsbald schon wurde es ruhiger unter den rumorenden Geistern jenes Landes. Das Volk begann, wieder zu arbeiten und nach der Ordnung zu leben, die der neue Herrscher in all seiner Weisheit und Güte hatte verlautbaren lassen. Krankheit und Siechtum waren bald schon vergessen, und das Brot jenes Landes ernährte all das ganze Volk. Jenes Land lebte nun in Frieden und Wohlstand, und oft priesen Lob und Ehre des Landes neuen Herrscher. Und als der Hof des Herrschers anriet Zisternen auszuheben für eine kommende Zeit des Mangels, fand der weise Rat schnell die gefolgsame Tat.
Die Zeit kam und ging; die der Kälte und die der Wärme; die der fröhlichen Blumen und die der trauernden Blätter. Noch immer herrschte der weise und gütige Herrscher, weiterhin lebte das Volk in Frieden, und die ausgehobenen Zisternen waren voll des klaren Wassers für eine kommende Zeit des Mangels.
Eines Tages dunkelte es nicht mehr. Die Nacht blieb aus, denn es zog den Tag nicht mehr fort, und es blieb der Tag während der ganzen Nacht, und es blieb der Tag während der ganzen Nacht, und er blieb tags drauf und auch, als es wiederum hätte dunkeln müssen, und so fort.Die Nächte blieben aus, die Sonne strahlte wie sonst nur zur Mittagszeit. Das Volk jenes Landes aber ward regiert noch immer vom gleichen gütigen und weisen Herrscher, wie schon seit ehedem; und es machte nichts zu schlafen bei Tage wie bei Nacht. Herrscher und Gefolgschaft bis hin zu den Knechten auf den Feldern jenes Landes gewöhnten sich schnell an die Zeiten immerwährenden Lichtes. Man staunte und rätselte nicht allzu lang über diese Laune der Götter und machte sich keinerlei Gedanken.
Nun begab es sich, daß die Flüsse versiegten und die Brunnen kein Wasser mehr gaben. Das Land ward trocken. Dürre kehrte ein und es drohte der Tod der Pflanzen, der angebauten Früchte und der des Getreides auf den Feldern. Doch kein Murren kam auf im Volke jenes Landes, sondern Worte der Lobpreisung entsprangen den Lippen aller Leute, denn vorzeiten wurde geraten, Zisternen auszuheben für eine kommende Zeit des Mangels. Nunmehr würde das bevorratete Wasser reichen, die Dürre zu durchstehen, und so fand sich kein Wort der Mißgunst und des Mißmutes unter dem Volke.
Tag und Nacht hatten lange schon nicht mehr gewechselt. Das Volk wußte Wasser nur zu schöpfen in den ausgehobenen Zisternen aus Menschenhand. Nur noch die Alten jenes Landes wußten von der Sage fließender Ströme in früheren Zeiten. Auch wußten sie von der Höhe des Wassers der Zisternen in jenen Zeiten, und sie sahen die Höhe des Wassers zu diesen Zeiten. Da berieten sich die Alten und mahnten das Volk, Bedächtigkeit zu üben und Sparsamkeit, denn niemand, auch der gütige und weise Herrscher nicht, wüsse vom Ende der Zeit des Mangels. So durchzog Angst die Bezirke jenes Landes, denn kaum jemand fand sich mehr, der von früheren Zeiten zu berichten wußte: wo Wasser noch den Flüssen entsprang und nicht Zisternen, die das Volk vorzeiten einmal ausgehoben hatte. Auch dies wußten die Leute kaum mehr; und alles hielt es für das Werk der Götter; in deren Laune sah es das Schicksal ihres Daseins.
Lange Zeit über hatte das Volk jenes Landes keine Not gekannt, auch nicht in den Anfängen der Dürre, doch nun bangten die Leute um ihr Leben. Sie glaubten nicht mehr an die Weisheit ihres Herrschers, sondern fürchteten den Zorn der Götter.
Noch waren die Zisternen voll vielen klaren Wassers, denn in des Herrschers Weisheit und Güte, an die das Volk nunmehr nicht mehr glaubte, hatte er anraten lassen, sehr tiefe und sehr breite Zisternen auszuheben. Dennoch wurde es Mode zu zweifeln bei jedem Wort und bei jeder Tat, und es wurde Sitte, einander nicht mehr zu grüßen, sondern wehzuklagen einer dem andern und zu jammern und nicht mehr freundlich zu sein.
So fand die Angst des Volkes reichlich Nahrung, und immer häufiger zog das Volk sich zurück, um sich im kleinen Kreise zu beratschlagen. Und es beratschlagte mit der Angst im Nacken. Recht bald hieß es, hingehen und den Nachbarn um ein wenig Wasser bitten, der, ach, habe doch noch reichlich, während schon seit Tagen Weib und Kind darbten und nach Wasser verlangten ,welches man nicht habe. So wurde allerorten eine Idee gekürt, und überall wurde beratschlagt hinzugehen und die Bitte vorzutragen, etwas Wasser zu teilen. So wurde diese Bitte von jedermann vorgetragen, und schon bald wußten die Leute von der Sinnlosgkeit ihrer Idee, etwas zu erbitten, was man nicht zu teilen bereit war. Das Volk zog sich zurück und sah sich nicht mehr, denn die Scham bannte die Lippen der Leute. Es wuchs die Dürre, und immer geringer wurden die den Zisternen entnommenen Mengen Wasser. Es wuchs die Sparsamkeit weit über das angeratene Maß hinaus bis hin zur Knauserigkeit, bis hin zum Geiz, und bald plagte der Geiz die Leute mehr als der Durst.
Viel Zeit war vergangen seit dem Beginn jenes ewigen Tages. Und als es nach langer, langer Zeit wieder dunkelte, glaubte das Volk an die Strafe der Götter. Wieder schürte Angst das Denken der Leute; groß ward das Bibbern und es häuften sich die Rufe nach des Herrschers Beistand. Doch längst schon gab es den weisen und gütigen Herrscher nicht mehr. Die Rufe des Volkes irrten durch das Dunkel jenes Landes und blieben ungehört. So trug es sich zu, daß Reue das Volk erfaßte, und jenes Land tat Buße und schenkte einander das Wasser, um welches man seinerzeit angefragt hatte: Der Leute Geiz hatte sie immer weniger und weniger den Zisternen entnehmen lassen. So fand sich nun überall im Lande noch Wasser, jetzt wo der Regen mit dem Dunkel übers Land kam und die Erde tränkte und die Früchte des Bodens wieder wachsen ließ.
Das Volk wußte von seinem Geiz. Nun, als das Dunkel dem Schein der Sonne wich und keiner im Volk eine leere Zisterne vorweisen konnte, ward der Scham der Leute groß. Die Zisternen und das Wasser lasteten auf ihnen wie ein Kainsmal, denn gegeizt und gelogen hatte jeder. So war man froh um den Witz eines Knechtes,dem einzigen im Lande, der Geiz und Scham nicht kannte. Er war zu dumm, die Hinterlist des Volkes zu erkennen. Dieser Knecht witzelte über einen Zauber, welcher die Zisternen gefüllt habe während der Zeit der Dürre, denn nie schwanden die bevorrateten Wasser, so sehr man auch schöpfte. Das Volk ward froh über des Knechtes Spruch und entledigte sich alsbald der Scham, indem man den Knechte zum Zauberer erklärte.
Fortan erzählte man sich von Liquidus, dem Feldknecht, der in den Zeiten des Schlafes durchs Land zog die Zisternen zu füllen. Bald schon wurde des Volkes feinsiniger Einfall zur Sage, die die Alten von Generation zu Generation weiterreichten.
So konnte sich die Sage vom Heiligen Liquidus, dem Manne, der in Zeiten des Mangels ein ganzes Volk nicht dürsten ließ, recht, recht lange halten; und noch heute wissen kluge Leute von ihm zu berichten.