Vom Dimensionssprung

Das ist exklusiv. Ein wahrlich schönes Wort. Ist etwas exklusiv, ist es auf eine sonderbare Weise besonders. Ist einzigartig. Ist keine Dutzendware, kein Durchschnitt. Dem Duden fällt beim Adjektiv ausschließlich ein und fügt, beinah verschämt, Ausschließlichkeit als Substantiv hinzu. Wie schlicht. Nun, ein Duden ist eben nicht exklusiv.

Eigentlich aber hat er Recht. Und Exklusives gibt es zuhauf. Das schnöde Telefon zum Beispiel. Ausschließlich zu benutzen durch eine Person. Das Ding hat nur einen Griff, eine Sprech -und eine Hörmuschel. Exklusives findet sich überall, an den unverdächtigsten Orten und Örtchen. Wahrlich unanständige Nähe gebietet die exklusive Nutzung einer Klobrille, zum Beispiel. Weniger unanständig, wenn auch mitunter schmerzhafter ist die gleichzeitige oder mehrfache Nutzung eines Fahrradweges in entgegengesetzten Richtungen. Gleiches gilt für entsprechend enge Straßen. Oder für Bahnstrecken.

So gesehen ist Exklusivität eigentlich recht nützlich. Es erspart eine Menge Ärger bei allen Beteiligten, von diversen Aufräumarbeiten ganz zu schweigen. Das Ganze hat natürlich auch eine Kehrseite, und die liegt in der Natur der Sache. Solange besagte Klobrille von einem Zeitgenossen belegt wird, solange heißt es warten – oder auf eine vorhandene freie ausweichen. Exklusivität fordert Geduld und erzeugt Mangel. Ersteres ist eine immer seltener anzutreffende Tugend, Letzteres aus Sicht der lieben Mitbürger, denen es an Ersterem mangelt, äußerst unbeliebt. Im besten Falle sind immer größer werdende, anfänglich ruhende Massen zu beobachten. Das mit der Ruhe gibt sich mit der Menge verstrichener Wartezeit potenziert mit der Kardinalität der wartenden Menge. Immer schneller wippt der Notdürftige vorm Toilettenhäuschen hin und her und immer öfter dröhnt im Stau die Hupe.

Es gibt recht feinsinnige Einrichtungen zur Kontrolle des Exklusiven. Da ist das Türschloß an der Klotür und die Ampel mit ihren bunten Lichtern an der Kreuzung und die weiß-rot-weiß gestreifte Schranke am Bahnübergang. All diese Gerätschaften dienen nur einem Zweck: der Verwaltung des Mangels.

Web mangelt es gleich mehrfach. Wie jedem bedürftigen Zeitgenossen mangelt es zunächst an den für ein sorgenfreies Leben nötigen Mitteln. So pendelt er allmorgendlich mit der bundesdeutschen Stadtbahn in die große Stadt. Der mangelt es an Geld, nicht aber an Arbeit. Der Bahn mangelt es vom allgemeinen Platzmangel abgesehen an Sitzplätzen. An Fahrgästen hingegen mangelt es nicht.
Der Bahn mangelt es wohl auch nicht an Waggons und Lokomotiven. Die finden sich des öfteren in Form eines Zuges irgendwo auf der Bahnstrecke oder im Tunnel, wo sie keiner sieht – und warten. Und ein wenig weiter hintendran, ein bißchen freie Gleisstrecke dazwischen, wartet der nächste Zug in Form einer Lok plus mehrerer Waggons. So ein Zug ist eben mehr als nur das, was unsereiner zu sehen bekommt. Ein ganz wichtiger Bestandteil eines Zuges ist vorne vor der Lok und hinten nach dem letzten Waggon zu finden. Es ist – nichts.
Da gibt es nichts zu wundern. Die Menge Nichts drumrum, ein Vielfaches der Zuglänge messend, ist überaus wichtig, dient sie doch unser aller Sicherheit. Der minimal zum Vordermann einzuhaltende Abstand. Der existiert in der Theorie auch auf anderen befahrbahren Strecken wie Autobahnen und Landstraßen. Dieses Nichts von Mindestabstand ist schon ein hungriger Gesell. Ärzte würden das Phänomen als raumfordernd bezeichnen.

Diese Zugfahrten, wie leicht zu sehen, lassen sich also nicht ohne weiteres vermehren. Was um so problematischer ist, kämen grundlegende qualitative Maßstäbe zum Einsatz. So wird in keinem guten Restaurant im Stehen gespeist, und in jeder Toilette gibt es einen Sitzplatz. Web verweist nochmals auf jene eingangs angeführte Klobrille.
Entspräche nun die Anzahl der Sitzplätze der Anzahl der Fahrgäste, müßten noch mehr Waggons her, und so ein langer Zug würde noch länger. Oder es gäbe mehr Züge mit noch mehr Mindestabstand drumrum. Es bleibt schwierig.

So ein Bahngeleise verdaut eben nur eine gewisse Menge Zugfahrten. Sättigungsgrad heißt das wohl. Einmal erreicht, kommt es zur Verstopfung. Gilt gleichermaßen nicht nur für die lieben Gleisstrecken, gilt auch für Straßen aller Art. So eine phänomenale Sättigung zeigt sich überhaupt bei allen zwei Punkte verbindenen Konstruktionen. Die transportieren Autos, Menschen, allerlei Güter des Alltäglichen von ihrem Eingang zu ihrem Ausgang, und mehr hineinstopfen als wieder rausnehmen geht eben nicht. Selbst im immateriellen Reich der Software greift das. Auch da werden des öfteren erzeugte Daten stilgerecht von einem Programm zum nächsten befördert, und das Mittel der Wahl nennt sich pipe und der Sättigungsgrad pipe overflow.

Findige Geister lösen das Problem gedanklich und legen neue Bahnstrassen oder Straßen an. Aber wo? Grund und Boden sind nur begrenzt verfügbar. Unsereiner will ja auch noch wohnen irgendwo und nicht nur unterwegs sein. Stapeln lassen sich Verkehrswege auch schlecht, zumindest ist es unpraktisch und eine hohe Herausforderung an unsere lieben Statiker. Alles Mobile findet in der Ebene schnell seine Grenzen. So eine Ebene hat eben nur zwei Dimensionen.

Web hat sich ein Herz gefaßt und den Dimensionssprung gewagt. Hier, in der dritten Dimension, ist ziemlich viel Platz. Da lassen sich viele Luftstraßen anlegen, nebeneinander und übereinander und kreuz und quer.
Dem Unkundigen oder durch zwielichtige Medien fehlinformierten Lesern sei das kurz erklärt mit den Luftstraßen. Das luftfahrende Volk ist entgegen einer weitläufigen Meinung sehr wohl erdgebunden. Einmal durch die Kraft der Schwere. Zum andern bedingt durch die Notwendigkeit zu wissen, wo denn einer sich gerade befindet. In den Anfängen des kommerziellen Lufttransportes, zu Beginn der Postfliegerei in den Zwanzigern, flogen die Piloten einfach Eisenbahnlinien entlang. Die verbanden damals schon die größeren Städte, und das Auto war noch nicht so verbreitet. Im Falle einer gar nicht so seltenen Notlandung ließen sich die Postsäcke überdies am nächsten Bahnhof auf den Zug verfrachten.
Der Krieg sorgte für eine rasche Verbesserung der Flugzeugtechnik und Notlandungen aufgrund von technischen Problemen nahmen ab und die Zahl der gegnerisch gewollten Abschüsse zu. – Nun ja.

Später, in den Fünfzigern und danach, nahm der Luftverkehr zu. Wetterunabhängig fliegen, um im Geschäft zu bleiben, wurde immer wichtiger. Hier half die Funktechnik. Einfache Sender strahlten ein in alle Richtungen gleiches Signal aus, zusammen mit der Stationskennung im Morsecode. Diese ungerichteten weil in alle Richtungen sendenden Funkfeuer, kurz NDB für Nonedirectional Radio Beacon konnten mit Hilfe einer Peilantenne im Flugzeug geortet und der Morsecode im Lautsprecher abgehört werden. Gerichtete Funkfeuer strahlen zusätzlich ein spezielles Signal aus. So ein VOR, abkürzend für Very High Omnidirectional Radio Beacon, stellt logisch gesehen einen Strahlenkranz dar, und jeder einzelne Strahl nennt sich Radial, und diese Radiale lassen sich Gradangaben, bezogen auf den Norden, zuordnen. Im Gegensatz zu den NDBs ist der Wegflug von einem VOR auf einem bestimmten Radial möglich.

Luftstraßen sind nun nichts anderes als eine zwei VORs verbindende Gerade. So eine Luftstraße hat mehrere Etagen, das heißt, sie ist von mehreren Flugzeugen gleichzeitig benutzbar. Ist ja auch kein Wunder, schließlich befinden wir uns in der dritten Dimension.
Natürlich ist auch hier ein gebürtiger Abstand zum vorausfliegenden und nachkommenden Flieger ratsam, sowie zu den Kollegen über und unter einem. Dieser Abstand wird mittels Radar überwacht und nennt sich Staffelung, und diejenigen, die sich damit beschäftigen und staffeln, nennen sich Lotsen. Der Abstand in der Vertikalen, zwischen den Etagen der Luftstraßen also, beträgt tausend Fuß, das sind rund dreihundert Meter. Der Abstand in der Horizontalen, zum Vordermann also, beträgt meist fünf Meilen, so acht Kilometer und variiert je nach Flugzeugtyp und Geschwindigkeit. Mitunter findet die zeitliche Staffelung Verwendung. Zwischen dem Überfliegen eines Punktes, meist der Beginn oder das Ende einer Luftstraße, müssen soundsoviele Minuten vergangen sein.

Hier spielt die dritte Dimension klar ihren Vorteil aus gegenüber Verkehrswegen auf Mutter Erde. Ohne große Baumaßnahmen lassen sich neue Luftstraßen einrichten. Die Wegekosten sind erstaunlich gering, und drunten in der Landschaft gibts keine Narben aus Asphalt.
Mitunter stößt Web auf gewisse Schlagzeilen. Mit der Gnade der Einfalt schreibt dann ein Irgendwer was vom überfüllten Luftraum. Das Nadelöhr solcher Luftstraßen sind diese schönen gerichteten Funkfeuer. Einer Kreuzung gleich muß da alles durch, pardon: drüber. Dieser Effekt ist es, der mit überfülltem Luftraum dann gemeint ist aber mangels Verständnis nicht beschrieben wird.

Wunderschöne Elektronik und wunderschöne Computerprogramme indes werden diese Luftstraßennavigation bald überflüssig machen. Der Schnittpunkt zweier Radiale verschiedener Funkfeuer läßt sich automatisiert berechnen und anfliegen. Diese Waypoints ergeben sich aus der individuell gewählten Flugroute und liegen vielleicht mitten in der Wallachei und nicht mehr über einem einmal festgelegten und für alle verbindlichen Punkt. Flächennavigation heißt es in der Fachwelt dazu. Die Funkfeuer sind also sogar weiter verwendbar, wenngleich deren Zeit bald abgelaufen sein wird. Die Satellitennavigation steht schon bereit Das ganze Verkehrsaufkommen wird entzerrt ohne daß ein Bagger aufmarschiert und eine Schneise wie eine klaffende Wunde durch die Landschaft schaufelt.

So einfach ist das in der dritten Dimension, wird sie nur genutzt. Schließlich besitzt unsere Welt drei Dimensionen. Manche wissen auch von noch mehr als nur den Dreien, zählen gleich bis zu elf oder zwölf auf, aber drei sind es ganz gewiss.